Fall Nr. 133

 

„Sie können das doch bestimmt selber nicht!“

Schlüsselsatz: „Sie können das doch bestimmt selber nicht!“
Stufe: Sekundarstufe I
Bewegungsfeld: Bewegen an Geräten
Disziplin/Sportart: Schwebebalken
Mit Schüler*innen interagieren: Helfen und Sichern
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

Die Schülerinnen der 8. Klasse übten in zwei Gruppen aufgeteilt für die anstehende Überprüfung im Turnen. Die eine Gruppe begann am Kasten unter Anleitung der Fachlehrerin. In der anderen Turnhallenhälfte waren die beiden Schwebebalken aufgebaut. Am Niedrigeren sollten die Mädchen selbständig bekannte Übungsteile üben. An dem anderen Schwebebalken stand ich, um Hilfestellung bei den gerade neu eingeführten Aufgängen zu geben, und mir dann die gesamte Übung anzuschauen, die sich die Schülerinnen für die Benotung in der nächsten Sportstunde ausgesucht hatten.
Auf einmal hörte man einen heftigen „Rums“ und dann lautes Heulen. Ein Mädchen krümmte sich hinter einem der Kästen. Sofort war sie von allen anderen umringt, während die Lehrerin nachfragte, wo genau es denn weh täte, und ob sie noch alles bewegen könne. (…) Zum Glück hatte sich die Schülerin mehr erschrocken als alles andere, wurde aber trotzdem von der Lehrerin in den angrenzenden 1. Hilfe-Raum getragen, um sich dort beruhigen zu können.
Jetzt war ich allein mit den restlichen Schülerinnen in der Halle. Diese hatten sich auf eine kleine Pause eingestellt und saßen nun entweder auf dicken Matten, den Kästen oder den Balken.
Da meinte ich zu den Mädchen: „Auf geht’s, lasst uns weitermachen!“ Die blieben jedoch sitzen und sagten: “Nö, kein Bock!“
Ich versuchte noch einmal, sie zu ermuntern, aber ohne Erfolg. (…) Schließlich sagte eine der Schülerinnen: „(…) Machen sie das doch mal, sie können das doch bestimmt selber nicht!“
Ich überlegte einen Moment, dann stellte ich mich vor den Balken und fragte, welche Übung ich machen solle. Ein Mädchen diktierte mir die Übungsteile und ich machte die Übung fehlerfrei bis zum Ende vor. Danach bekam ich Applaus und die Mädchen nahmen wieder vor dem Balken Aufstellung.
Nach dieser Vorstellung genoss ich in jeder folgenden Stunde die Akzeptanz der Schülerinnen.

Aus: Lüsebrink, I. (2010). Wie viel Ungewissheit verträgt die Sportlehrer/innenausbildung? Wie viel Gewissheit erträgt die Profession? In P. Frei & S. Körner (Hrsg.), Ungewissheit – Sportpädagogische Felder im Wandel. (Schriften der Deutschen Vereinigung für Sportwissen¬schaft). Hamburg: Czwalina.


Fallinterpretation:
Folgt man einem konstruktivistischen Verständnis, dann muss die Frage danach, ob und inwiefern hier von einer Provokation gesprochen werden kann, dahingehend weiter verfolgt werden, ob und inwiefern die Beteiligten eine entsprechende Deutung anlegen. Dies lässt sich wiederum nur interpretativ bestimmen, da die Beteiligten sich im Verlauf der Episode dazu nicht explizit (z.B.: „Ich lasse mich von Dir nicht provozieren!“) äußern.
Die Aufforderung der Schülerin „Machen sie das doch mal, sie können das doch bestimmt selber nicht!“, lässt sich m.E. aufgrund des zweiten Teilsatzes als Herausforderung interpretieren. Diese Sichtweise wird unterstützt durch den Kontext der Situation, d.h. die Weigerung der Schülerinnen weiterzuüben („Nö, kein Bock!“), Ob die Praktikantin dies ebenso interpretiert, ist nicht eindeutig zu entscheiden. Das in der Darstellung beschriebene kurze Innehalten („Ich überlegte einen Moment.“) könnte dafür sprechen, dass sie die Aufforderung als Provokation auffasst und überlegt, wie sie damit am besten umgehen soll.
In diesem Beispiel zeigt sich eine Spezifik des Faches Sport, die sich in ausschließlich kognitiv ausgerichteten Fächern nicht auffinden lässt. Im Sport stellt das eigene sportmotorische Können der Lehrer/in keine notwendige Voraussetzung für die Vermittlung sportmotorischen Könnens an die Schüler/innen dar. Das ist z.B. im Mathematikunterricht anders. Ein Mathematiklehrer muss den zu vermittelnden Stoff auch selbst beherrschen, dies ist notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für seinen Vermittlungserfolg. Im Sportunterricht ist dies deshalb anders, weil hier nicht die Vermittlung von Wissen zentral ist, sondern die Vermittlung von Können . Ein sportliches Können kann aber auch der vermitteln, der die Bewegungen nicht selbst beherrscht, sondern „nur“ das entsprechende Wissen darüber hat. Im Bereich des Leistungssports geht es wohl den meisten Trainer/innen so, dass sie nicht (mehr) in der Lage sind, ihren Athlet/innen die zu erlernenden Bewegungen vorzumachen. Im Schulsport ist das Könnensniveau zwar deutlich niedriger angesiedelt, dafür haben es Sportlehrer/innen mit einem sehr breiten Spektrum an unterschiedlichen Sportarten und Bewegungsanforderungen zu tun, so dass in der Regel davon ausgegangen werden kann, dass nicht alle Bewegungen (gleich gut) von ihnen beherrscht werden.
Die geschilderte Provokation ist demnach nicht ungewöhnlich für den Sportunterricht, denn auch die Schüler/innen wissen um diesen Sachverhalt. Begünstigt wird ein entsprechendes Verhalten durch die spezifischen Rahmenbedingungen der vorliegenden Episode: Zum einen haben die Schüler/innen sich gerade auf eine Pause eingestellt. Zum anderen ist es nicht die zuständige Fachlehrerin, von der die Aufforderung zum Weiterüben kommt, sondern „nur“ eine Praktikantin, die bis zu diesem Zeitpunkt lediglich als Hilfestellung und in unterstützender Funktion eingesetzt war.
Wie ist nun deren Reaktion auf die Provokation einzuschätzen? Fragt man nach der Zweckmäßigkeit ihres Handelns, dann spricht sowohl der kurz- als auch mittelfristige Erfolg für sie: Die Schülerinnen üben nach der Demonstration der Praktikantin hochmotiviert weiter und auch für die folgenden Stunden hat sie sich Respekt und Anerkennung verschafft. Berücksichtigt man, dass Lehrer/innen für ihr Handeln in machtthematischen Situationen nur eine begrenzte Anzahl an Mitteln zur Verfügung steht (vgl. Erdmann, 1987), dann muss man allerdings fragen, wie diese sinnvoll eingesetzt werden können. Möglicherweise führt der schnelle Rückgriff auf das eigene sportmotorische Können dazu, dass die Schülerinnen nachfolgend immer wieder auf entsprechenden Demonstrationen beharren. Vielleicht hat die Praktikantin aber auch erreicht, dass sie dann ohne Gesichtsverlust eingestehen kann, bestimmte andere Bewegungen nicht (so gut) vormachen zu können.
In pädagogischen Kontexten zählt jedoch nicht allein die Zweckmäßigkeit des Handelns, sondern auch die Angemessenheit. Hat die Praktikantin sich nicht auf eine Stufe mit den Schülerinnen gestellt, indem sie so schnell auf die Provokation eingestiegen ist? Hätte sie nicht mehr Souveränität an den Tag legen müssen? Ist ihre Bewegungsdemonstration nicht als kindisch-eitle Reaktion auf die Behauptung der Schülerin („Sie können das doch bestimmt selber nicht!“) zu interpretieren? Hätte sie nicht betonen müssen, dass sie zwar für die Vermittlung von Sport zuständig ist, die Ausführung der Bewegungen aber Sache der Schülerinnen ist? Und wenn sie schon auf den Machtkampf einsteigt, hätte sie dann nicht mit einem entsprechenden Kommentar unterstreichen sollen, dass sie diesen (diesmal) klar gewonnen hat (vgl. z.B. Söll & Kern, 1999, S. 32ff.)? Oder könnte man – gerade im Sportunterricht – entsprechende Herausforderungen der Schüler/innen nicht auch „sportlich“ sehen? Schließlich ist das ein zentrales Element des Sports: die Herausforderung durch den Gegner und der faire Leistungsvergleich.
Scherler (1983) verweist (in einem anderen Kontext) darauf, dass das Vormachen nie allein auf die Demonstration einer Bewegung beschränkt ist, sondern immer auch motivationale Aspekte im Sinne eines motivierenden Vormachens beinhaltet. Zudem diskutiert er das angemessene Verhältnis von Sach- und Selbstpräsentation bei der Bewegungsdemonstration. Dies lasse sich nicht pauschal bestimmen, angesichts des vorliegenden Beispiels könnte man allerdings die Frage stellen, ob es nicht Situationen gibt, in denen es durchaus angemessen sein kann, Bewegungen primär unter dem Fokus der Selbstpräsentation vorzumachen. Die Praktikantin hat in der vorliegenden Situation nicht viele andere Möglichkeiten zur Verfügung: Sie hat weder den Status der Fachlehrerin, noch ist sie offiziell als Vertreterin eingeführt. Zudem haben die Schülerinnen sie bislang noch nicht in einer Funktion kennen gelernt, in der sie ihren Anweisungen Folge zu leisten hatten. Daher hat die Praktikantin möglicherweise die in dieser Situation erfolgversprechendste Handlungsalternative gewählt. Als fertig ausgebildeter Fachlehrerin stehen ihr wahrscheinlich andere, ggf. bessere Möglichkeiten zur Verfügung.

aus Lüsebrink, Ilka (2010). Sportlehrer/innenausbildung im Gang von Beispiel zu Beispiel. In: Schriftenreihe Fachdidaktische Forschung, Nr. 2, Juni 2010. Online verfügbar: http://www.uni-hildesheim.de/media/fff/Luesebrink_02-2010.pdf.