Fall Nr. 132

 

„Sie können ja mal nachschauen!“

Schlüsselsatz: „Sie können ja mal nachschauen!“
Stufe: Sekundarstufe I
Bewegungsfeld: Schwimmen
Inhalte präsentieren: Spielen und Wettkämpfen
Textsorte: Didaktischer Text

Fallbeschreibung:

Der Sportlehrer einer 9. Klasse kündigte seinen Schülern eine Woche im Voraus an, wie der stattfindende Schwimmtag ablaufen wird. Er erklärte, dass eine Schwimmdistanz von 500 m innerhalb von 22 Minuten zu absolvieren wäre. Zwei Gruppen von jeweils 10 Schülern sollen 20 mal die 25 Meter-Bahn schwimmen. Der Start, ob Kopfsprung oder direkt aus dem Wasser, sei für jeden freigestellt. Ebenfalls dürfe sich jeder Schüler seinen Schwimmstil selber aussuchen.
Die Schüler ziehen sich in der Umkleidekabine um. Nach kurzer Zeit kommen die ersten aus der Kabine und Anja geht auf den Lehrer zu: „Herr Schmidt, ich kann heute leider nicht mitmachen, da ich meine Regel habe“, und wartet auf eine Antwort. Der Lehrer überlegt kurz und stellt sie vom Unterricht frei mit der Bedingung, in zwei Wochen die Schwimmstunde nachzuholen. Die meisten Schüler springen ins Wasser und tollen herum, andere sitzen aufgeregt auf den Bänken und hoffen, dass der Schwimmtest schnellstmöglich durchgeführt wird.
Es dauert nicht lange und drei weitere Mädels kommen zu dem Lehrer. Eine von den drei Schülerinnen geht selbstbewusst auf den Lehrer zu: „Wir können leider auch nicht mitmachen, weil wir ebenfalls unsere Regel haben.“
Lehrer: „Das kann doch nicht sein, dass ihr das alle zur gleichen Zeit habt.“
Schülerin: „Doch, sie können ja mal nachschauen?!“
Lehrer: „Das ist eine so einfache Note, die ihr euch holen könnt und ihr habt keine Lust. Überlegt euch noch einmal, ob ihr wirklich nicht mitmachen wollt.“
Schülerin: „Wir würden ja gerne, aber wir können nicht.“
Lehrer: „Also gut, wenn ihr nicht wollt, dann setzt euch so lange auf die Seite. Ich muss mir noch stark überlegen, ob ich nochmals so einen Schwimmtag mit euch durchführe.“
Kurz danach startet die erste Gruppe. Sowohl unter den Jungen als auch bei den Mädchen gibt es niemanden, der die vorgegebene Zeit nicht schafft.
Während die Gruppe nacheinander aus dem Wasser steigt, kommt eines von den drei Mädels zu dem Lehrer: „Herr Schmidt, könnte ich vielleicht in der zweiten Gruppe noch mitschwimmen? Ich glaube, dass es heute noch geht.“
Lehrer: „Du musst doch wissen, ob Du nun deine Regel hast oder nicht!“
Schülerin: „Ich hab sie noch nicht, aber...“
Lehrer: „Hier gibt’s kein aber. Du setzt dich wieder zu deinen Freundinnen und schaust bei den anderen zu!“


Fallinterpretation:
Der vorliegende Fall verweist auf ein zentrales Problem der alltäglichen Unterrichtspraxis, das im Sportunterricht eine besondere Zuspitzung erfährt. Es geht um die Beteiligungsfrage oder umgekehrt: um die Verweigerung der Teilnahme, die im Sportunterricht häufig viel offensichtlicher zu Tage tritt als in anderen Fächern, in denen ein Rückzug aus dem Unterrichtsgeschehen auch sehr unauffällig erfolgen kann. Eine erste Anforderung an LehrerInnen besteht demnach darin, überhaupt erst ein Arbeitsbündnis mit den SchülerInnen zu etablieren.
Damit ist ein wesentlicher Unterschied zum therapeutischen Handeln ange-sprochen: Schulische Bildung reagiert nicht auf akut vorliegende Probleme in Form von Bildungsbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen vergleichbar dem Leiden einer potenziellen PatientIn, sondern findet auf der Basis von Defizitzuschreibungen statt. Während therapeutische Maßnahmen auf ein manifestes Leiden reagieren, stellt der Schwimmunterricht keine Lösung für ein Problem der Mädchen dar. Sachbezogene schulische Probleme sind Konstruktionen, von denen angenommen wird, dass ihre Bearbeitung bildungsrelevant und damit für die Zukunft der SchülerInnen von Bedeutung sein wird. Aber abgesehen davon, dass es sich hierbei immer nur um Annahmen handeln kann, die angesichts der beschleunigten gesellschaftlichen Entwicklung in der Moderne zunehmend unsicherer werden, erscheint die Auswahl einzelner Unterrichtsinhalte vor diesem Hintergrund grundsätzlich problematisch. Die Schülerinnen könnten mit guten Gründen fragen, was der geplante Schwimmtag zu ihrer Bildung beiträgt bzw. beitragen soll. Damit ist die Legitimation von Unterrichtsinhalten angesprochen, die im Falle des Sportunterrichts – aber auch z.B. bei Fächern wie Kunst und Musik – schnell zu einer grundsätzlichen Infragestellung des Faches führt.
Über die mit dem Schwimmtag verfolgten Absichten des Lehrers lassen sich nur Vermutungen anstellen: Vielleicht bildet der Schwimmtag den Abschluss einer Unterrichtsreihe, an deren Ende die SchülerInnen ihre verbesserte Ausdauer erproben sollen. Möglicherweise geht es auch um die Erfahrung, was es bedeutet 500 m zu schwimmen, z.B. im Gegensatz zu einem 500-m-Lauf. Eine unmittelbare, eindeutige Beziehung zwischen dem Unterrichtsthema und einem konkreten Bildungsziel lässt sich wahrscheinlich kaum herstellen, was aber für die meisten Unterrichtsinhalte auch anderer – und scheinbar wichtigerer – Fächer gilt. Auch der Status von Goethes „Faust“ oder der Differential- und Integralrechnung lässt sich so gesehen nicht unmittelbar ableiten, sondern bleibt letztlich kontingent. Das darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es für LehrerInnen immer notwendig ist, sich selbst und den SchülerInnen Rechenschaft über die jeweiligen Themen und deren Aufbereitung abzulegen, eine Legitimationsleistung, die offenbar auch zunehmend stärker von SchülerInnen eingefordert wird.
Wenn also kein konkreter Ausgangspunkt für die Etablierung eines Arbeitsbündnisses vorhanden ist, dann kann genau diese Etablierung – wie im vorliegenden Fall – zum Problem werden. Die Schule selbst erzeugt damit noch in einem weiteren Sinne Probleme, die es ohne sie nicht gäbe. Ohne die Verpflichtung einer Teilnahme am Schwimmunterricht gäbe es das beschriebene Problem für bzw. mit den Schülerinnen nicht. Dieses Problem kann als Interaktionsproblem charakterisiert werden, denn das Arbeitsbündnis ist als Interaktionspraxis konzipiert.
Wenn die erste Anforderung für den Lehrer demnach in der Etablierung des Arbeitsbündnisses besteht, dann muss sich der Lehrer nicht nur vorab Gedanken darüber machen, wie sein Unterrichtsthema zu einem Thema für die SchülerInnen werden kann. Im Falle des Scheiterns muss zudem eine stellvertretende Problemdeutung einsetzen, die genau dieses Scheitern betrifft. Die Problemdeutung des Lehrers erfolgt – angesichts der vorliegenden Situation vielleicht nicht überraschend – sehr schnell und vor allem eindeutig: Die Mädchen haben nicht ihre Periode, sondern schlicht keine Lust. Auch wenn diese Deutung nahe liegend erscheint, stellt sich doch die Frage, ob nicht andere Möglichkeiten zumindest hätten mitbedacht werden müssen.
Besonders aufschlussreich ist aber, dass der Lehrer die Verweigerung der Mädchen sehr persönlich nimmt. Dies zeigt sich besonders am Ende der Diskussion („Ich muss mir noch stark überlegen, ob ich nochmals so einen Schwimmtag mit euch durchführe.“) sowie angesichts seiner Reaktion auf die Bitte um Wiedereinstieg ins Unterrichtsgeschehen der rückkehrwilligen Schülerin („Hier gibt’s kein aber. Du setzt dich wieder zu deinen Freundinnen und schaust bei den anderen zu!“). Damit wird deutlich, dass der Lehrer nicht erst mit der stellvertretenden Problemdeutung und –bearbeitung ins Spiel kommt, er ist von Beginn an Teil der problematischen Situation.
Nicht nur die Schule im Allgemeinen erzeugt Probleme, die es ohne sie nicht gäbe, dies lässt sich auch auf die Ebene der jeweiligen Unterrichtsplanung herunterbrechen. Der Lehrer im vorliegenden Beispiel ist offensichtlich nicht auf die rollenförmige Ausführung des Lehrplans reduzierbar, er ist emotional involviert. Was heißt das für die stellvertretende Problemdeutung des Lehrers? Nicht nur, dass er sich von vornherein allein auf Unlust als Ursache der Unterrichtsverweigerung beschränkt, seine Reaktionen werfen auch die Frage auf, ob er seine eigene Eingebundenheit in die Situation ausreichend mitreflektiert. Dies erscheint allerdings notwendig, denn eine Beschränkung der stellvertretenden Problemdeutung auf die Ursachen der Teilnahmeverweigerung – Periode, Unlust oder Angst – greift m.E. zu kurz. Die Situation wird adäquater erfasst, wenn sich die stellvertretende Problemdeutung nicht allein auf die Schülerinnenseite beschränkt, sondern der Lehrer sich miteinbezieht. Also nicht: Die Mädchen verweigern die Teilnahme, weil sie keine Lust haben, sondern: Die Mädchen verweigern aus Unlust die Teilnahme, obwohl ich mir so viel Mühe bei der Planung gegeben und mir etwas Tolles für sie ausgedacht habe! Erst mit dem Engagement des Lehrers, seiner Überzeugung, ein besonderes Angebot für die SchülerInnen bereitzustellen und die damit verbundenen Emotionen, werden wesentliche Facetten der Problematik erfasst.
[...]
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Überlegungen für den vorliegenden Fall? Was hätte der Lehrer gewonnen, wenn er seine eigene, vor allem auch emotionale Eingebundenheit in die Situation mitreflektieren würde? [...] Statt der indirekt zum Ausdruck kommenden Enttäuschung des Lehrers in Form von leeren Drohungen sowie Machtdemonstrationen (s.o.), bestünde die Möglichkeit, zumindest auf dieser Ebene mehr Transparenz in die Situation zu bringen. Angesichts des undurchsichtigen Manövers der Schülerinnen könnte zumindest der Lehrer seine Enttäuschung explizit artikulieren, ebenso wie seine Grenzen hinsichtlich der Durchsetzung der Teilnahmepflicht. „Schade, dass ihr nicht mitmacht. Ich kann zwar nicht nachprüfen, warum ihr nicht teilnehmen wollt oder könnt, aber ich dachte, so ein Schwimmtag würde euch gefallen.“
Die Reflexion der eigenen emotionalen Verwobenheit mit der Situation ermöglicht vor allem aber, diese zu relativieren und als perspektivisch wahrzunehmen. Denn selbstverständlich besteht die Möglichkeit, dass die SchülerInnenperspektiven sich von der des Lehrers unterscheiden, sie sein Angebot also keinesfalls als „toll“ einschätzen. Das Engagement für eine besondere Schwimmstunde könnte dann – im Sinne einer widersprüchlichen Einheit – verknüpft werden mit der notwendigen Distanz, die es ermöglicht, die abweichenden Perspektiven der SchülerInnen nachzuvollziehen, ohne sie als akzeptablen Grund für eine Teilnahmeverweigerung anzuerkennen.

aus: Lüsebrink, I. (2006). Pädagogische Professionalität und stellvertretende Problembearbeitung. Ausgelegt durch Beispiele aus Schulsport und Sportstudium. Köln: Strauß.